Aus: Stimmen der Zeit, Heft 7, Juli 1992:
INTERNETRoman Bleistein SJ
Das Neukatechumenat
Zwischen Erwachsenenkatechese und Kirchenpolitik
Im Herbst 1991 wurde in Berlin das 19. Priesterseminar "Redemptoris Mater" gegründet. Bei diesem Priesterseminar handelt es sich - nach einem römischen Vorbild in der Via delle Tenuta della Maglianella 88 - um ein Diözesanseminar unter der Autorität des Ortsbischofs. Es dient allerdings der Ausbildung von Priestern, die nach ihrer Weihe zunächst drei bis fünf Jahre in dieser Diözese arbeiten, dann aber im Einvernehmen mit dem Ortsbischof (und wohl auf Weisung einer Zentrale des Neukatechumenats in Rom) zur Evangelisation in andere
Weltgegenden geschickt werden.
Dieses neuartige Seminar in Berlin hat die folgende Geschichte. Nach einem Bericht von Prälat Peter Tanzmann vom 26. November 1991 beklagt Kardinal Georg Sterzinsky bei einem Gemeinschaftstag der Neukatechisten in Berlin, daß sich 1991 nur ein einziger junger Mann aus dem Bistum Berlin zum Theologiestudium angemeldet habe. Da "bietet das Neokatechumenat dem Bischof von Berlin ein Priesterseminar 'Redemptoris Mater' an. Der Berliner Kardinal nimmt nach vielen klärenden Rückfragen dieses Angebot an und bittet um Entsendung von etwa 20 Kandidaten." Am 20. Oktober 1991 treffen 24 Seminaristen aus elf Nationen, von denen nur acht der deutschen Sprache mächtig sind, in Berlin ein. Sie hatten sich am 6. Oktober 1991 in Rom zur Verfügung gestellt und nehmen nun je zu zweit Quartier in Familien des Neukatechumenats. Inzwischen besuchen die Seminaristen seit dem 28. Oktober 1991 eine Sprachschule. Als Ort der theologischen Ausbildung scheint das Theologische Seminar an der Freien Universität Berlin nicht in Frage zu kommen. Die Verantwortlichen des Neukatechumenats zeigen "eine große Reserviertheit gegenüber einer staatlichen Theologischen Fakultät in Berlin, weil man eine Theologie befürchtet, die von den Folgen des geistigen Umbruchs von 1968 beeinflußt ist". Kardinal Sterzinsky sieht dann nur die Möglichkeit einer Fakultät im Rahmen der Konkordate und weist darauf hin, "daß ein Diözesanseminar 'Redemptoris Mater' in Berlin nicht das Diözesanseminar für alle sein kann, sondern nur für jene Priesteramtskandidaten, die auf dem neukatechumenalen Weg sind". Man hat demnach in der Diözese Berlin offensichtlich zwei Priesterseminare .
Diese Neugründung beruft sich vor allem auf das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über Dienst und Leben der Priester "Presbyterorum Ordinis" (vorn 7. Dezember 1965) und auf das Schreiben von Papst Johannes Paul II. vom 30. August 1990 an Bischof Paul Josef Cordes (Rom) , der als Vizepräsident des Rates für die Laien "ad personam" mit dem Apostolat für neukatechumenale Gemeinschaften beauftragt ist. Während ersteres die Möglichkeit einräumt, im Hinblick auf spezielle pastorale Aufgaben einzelne internationale Seminare zu schaffen (vor allem in Nr. 10), erkennt der Papst den "neokatechumenalen Weg an als Weg zur Formung von Menschen aus katholischem Geist, wirksam für die Gesellschaft und für die gegenwärtige Zeit". Er äußert den dringenden Wunsch, daß "die Brüder im bischöflichen Amt - zusammen mit ihren Priestern - dieses Werk für die Neuevangelisierung recht bewerten und unterstützen, damit es sich gemäß den von den Gründern vorgeschlagenen Leitlinien, im Geist des Dienstes und der Communio gegenüber dem Ortsbischof sowie in Einheit der Teilkirche mit der Universalkirche verwirklicht". Damit sind jene beiden Quellen genannt, die inzwischen eine Fülle von diözesanen Priesterseminaren mit überdiözesanen Zielen legitimieren, wobei letztere von einer geistlichen Bewegung definiert werden. Da diese charismatische Entwicklung - zumal in der derzeitigen innerkirchlichen Umbruchsituation - nicht geringgeschätzt werden kann, gewinnt die Frage nach dem Sinn und der Wirkung des Neukatechumenats eine neue Qualität, die unübersehbar kirchenpolitisch relevant ist.
Entstehung des Neukatechumenats
Am Stadtrand von Madrid, in den Baracken von Palomeras Altas, begann im Jahr 1964 das Neukatechumenat . Initiator war ein junger Spanier, der Maler Francisco Arguello, mit Künstlernamen Kiko, der sich vom Atheismus zum christlichen Glauben bekehrt hatte. Nun wollte er seine Glaubensbegeisterung mit anderen teilen. So lebte er mit einigen anderen Laien unter den Armen dieses Elendsviertels und verkündete im Stil des Charles de Foucauld, in der einfachen Präsenz unter den Menschen, den christlichen Glauben. Bald wurde er von Carmen Hernandez, einer Lizentiatin der Theologie, unterstützt. Drei Jahre dauerte es, bis aus diesem Experiment alltäglicher Nähe eine katechetische Synthese entstanden war, als Weg der Initiation in den christlichen Glauben, der in einzelnen Schritten allmählich zu einem engagierten christlichen Leben und zur Kirche als einer lebendigen Gemeinschaft führte.
Durch das Interesse und die Förderung des Erzbischofs von Madrid, Casimiro Morcillo, breitet sich dieser geistliche Weg bald in Madrid, Barcelona und anderen spanischen Diözesen aus. 1968 faßte er Fuß in Rom, in der Pfarrei zu den Kanadischen Märtyrern. Auf die altchristliche Weise der "ltineranten", jener Priester und Laien, die sich als Diener des Evangeliums auf den Weg machen, wuchs seit 1971 die neukatechetische Gemeinde in allen Erdteilen. Eine Erhebung aus dem Jahr 1985 ergab, daß mehr als 7200 Gemeinschaften in über 2600 Pfarreien in 65 Nationen bestanden, auch in Deutschland und Österreich. Man rechnete weltweit mit 250000 Anhängern. Zumindest auch aus diesem Grund des großen Wachstums hat der Papst diesen geistlichen Weg als Weg der Neuevangelisierung empfohlen.
Methode und Theologie
Das Neukatechumenat versteht sich als Weg der Umkehr, der sich in den Strukturen der Pfarrei und in Verbindung mit dem Bischof vollzieht. Als Pastoral und fortwährende Katechese für Erwachsene findet es in kleine Gemeinschaften hinein, die sich als Zeichen der Einheit und Liebe und als Lebensform eines erwachsenen Glaubens ausbilden. Besonderen Wert legt man darauf, Fernstehende zum Glauben zu rufen. Dieses Vorhaben rechtfertigt, das Neukatechumenat der Bewegung der Neuevangelisierung zuzuzählen .
Die Phasen des katechumenalen Wegs sind in Methode und Inhalt festgelegt, artikulieren eine spezifische (paulinische) Theologie und gehen nach einem verpflichtenden Programm voran. Sie strukturieren den Weg, der über viele Jahre läuft, etwa über 14 bis 20 Jahre hin. Wenn ein Pfarrer für seine Gemeinde den Weg des Neukatechumenats beginnen möchte, nimmt er mit einer Gemeinde Kontakt auf, in der bereits neukatechumenale Gruppen bestehen. Diese senden dann ein Team von vier Personen (einen Priester, ein Ehepaar, eine weitere Person), die für den weiteren neukatechumenalen Prozeß verantwortlich sind. Der Ablauf geht in den folgenden Schritten voran:
1. Grundkatechese. Die ersten vier Katechesen mit den Themen: die Erfahrung mit diesem Glaubensweg, die Situation der Kirche, die Notwendigkeit der Evangelisation, die Mission der Kirche heben die Bedeutung des Neukatechumenats heraus und sollen zu einer engagierten Teilnahme motivieren. Es schließen sich zwei Katechesen an, die den Gottesglauben und die Sinnfrage des Menschen herausarbeiten. In ihnen wird zu einem lebendigen Gottesbild und zu einer vertieften Einsicht in die oft verfahrene Lebenssituation des Menschen schlechthin geführt. Auf die darin sich stellenden Fragen antwortet das Kerygma vom Knecht Jahwes, den Gott auferweckt hat und der jeden Menschen zur Umkehr ruft. Gemäß der inneren Logik dieser Einführung folgt nun der Empfang des Bußsakraments. Die nächsten Katechesen stellen Abraham als Vorbild des Glaubens und den Exodus als Weg der Befreiung von Sünde heraus. Zu der nun folgenden Wortliturgie wird der Diözesanbischof eingeladen. Er überreicht den einzelnen die Bibel. Die Grundkatechese wird durch einen Gemeinschaftstag abgeschlossen. Die vor allem in der Feier der Eucharistie erlebte Gemeinschaft bildet aus allen, die die Grundkatechese mitgemacht haben, eine enge Gemeinschaft mit dem Pfarrer der Gemeinde als Mittelpunkt. Ist dieses Ziel erreicht, können die Katechisten einstweilen die Gemeinde verlassen.
2. Das Vorkatechumenat. Die ersten zwei Jahre des Vorkatechumenats dienen der Auseinandersetzung mit den Fragen an den eigenen Glauben und mit den Bedingungen eines Glaubens, der sich ganz der Gnade Gottes verdankt. Einmal in der Woche trifft man sich zur Feier eines Wortgottesdienstes, von denen jeder vierte als Bußgottesdienst gefeiert wird, und am Samstag wird intensiv und feierlich die Eucharistie gemeinsam begangen. Alle sechs Wochen greift der Gemeinschaftstag die in den vergangenen Wochen behandelte Thematik auf. Nach diesen Jahren, in denen Christen "anfangen, den Zustand der Sünde und ihres Glaubens zu entdecken", folgt das erste Skrutinium, das im ersten Dialog aus dem Ritus der Taufe besteht . Der Neukatechumene trägt dann seinen Namen in die Bibel der Gemeinschaft ein.
3. Übergang zum Katechumenat. In den folgenden zwei bis drei Jahren lebt diese neukatechumenale Gemeinschaft weiterhin von der Trias Wort, Eucharistie, Gemeinschaft. In der bereits bekannten Methode wird die Heilsgeschichte "studiert", wird das Evangelium in seinen großen Forderungen im Hinblick auf die Arbeit, auf die Affekte, auf das Geld erschlossen. Die Absicht dabei ist, frei zu werden von den "Götzen dieser Welt". Das nun folgende zweite Skrutinium mit der Liturgie des Eintritts in das Katechumenat steht wiederum unter Leitung des Bischofs. Das aussagekräftige Zeichen für die innere Umkehr sind die Gaben und Spenden an die Armen der Pfarrei.
4. Das Katechumenat. In dieser Zeit soll erkannt werden, daß die Macht Jesu Christi von der Sünde befreit und daß der Glaube einen Kampf mit den Kapitalsünden darstellt. Die am Anfang stehende Einführung in das Gebet wird abgeschlossen mit einer Liturgie, in der das "Buch der Psalmen" überreicht wird. Im übrigen läuft diese "Schule des Glaubens" weiter. Man arbeitet bereits in der Pfarrgemeinde bei der Vorbereitung anderer - zumal junger - Gemeindemitglieder auf Erstkommunion, Firmung, Taufe oder Ehe mit. Dann leitet die Übergabe des Glaubensbekenntnisses hin zum Bekenntnis des Glaubens in der Gemeinde. Für sechs Wochen besuchen die Neukatechumenen in Dreiergruppen die Familien und bezeugen ihnen die Botschaft von Jesus. Nach dieser Phase der Evangelisation bekennt jeder in Gegenwart der Gemeinde seinen Glauben. Er erhält nach diesem Bericht, nach der "Redditio symboli", einen Palmzweig für die Prozession am Palmsonntag. Nach einem weiteren Jahr und einer vertieften Einführung in das Gebet wird jedem das Vaterunser übergeben.
5. Die Auserwählung. Das Thema dieser Katechesen lautet: "Aufruf als Volk Gottes, die Mission der Kirche zu leben, Sakrament der Liebe für die Welt zu sein". Der Übergang vorn Katechumenat zur Auserwählung wird in einer Liturgie gefeiert, in der der einzelne seinen Namen in das "Buch des Lebens" einschreibt (vgl. Lk 10, 29).
6. Erneuerung des Taufversprechens. Sie bildet das Ende und den Höhepunkt dieses Glaubenswegs in der Feier der Osternacht. Es heißt dazu in einer Darstellung des Neukatechumenats: "Leben in dem Bewußtsein, daß der auferstandene Christus jeden Tag in ihr Leben eingreift und sie retten muß, daß sie Pilger sind und in der Freude über das Heute Gottes und in Erwartung des himmlischen Vaterlandes leben, daß sie anders als die anderen Menschen zu sein haben, weil Gott sie zu einer hohen und großen Mission berufen hat: ein Christ zu sein."
Wie diese Darstellung aufweist, werden die einzelnen Schritte eines Weges - eigentlich eines Weges der Umkehr zum lebendigen Christsein - nach der über Jahre hin entfalteten Gestalt der überkommenen Taufe vollzogen. Damit wird das sakramentale Geschehen, das im Ritus der Taufe verkürzt zusammengeführt wird, wieder auseinandergelegt in die urkirchlichen Entwicklungsschritte und sozusagen durch weitere quasisakramentale Gesten noch gedehnt, angesichts längerer Reifungsprozesse in einer heidnischen Umwelt. Denn allem liegt der Ritus der "Eingliederung Erwachsener in die Kirche. Die Feier in Stufen" zugrunde. Entscheidend bei diesem Prozeß ist die Gemeinschaft als Grunderfahrung von Kirche. Sie steht wesentlich im "Dreifuß" Wort, Eucharistie, Gemeinschaft. Die Anschaulichkeit der Vollzüge der einzelnen Schritte gibt dem ganzen Vorgang eine nicht geringzuschätzende Dynamik, die allerdings angesichts einer Gesamtdauer von über 15 Jahren auch notwendig ist, wenn die Begeisterung des Anfangs nicht auf dem Weg erlöschen soll.
Chancen des Neukatechumenats
Die neue geistliche Bewegung Neukatechumenat versucht, in Theorie, Methode und Praxis den Nöten des heutigen Menschen und der Situation der Kirche zu entsprechen. Einige Details an diesem "Charisma" sollen besonders beleuchtet werden, weithin im Rückgriff auf die Arbeit von Ricardo Blásquez, Die neokatechumenalen Gemeinschaften. Eine theologische Klarstellung (Wien o. J., nicht im Buchhandel. Zitiert: B mit Seitenangabe).
1. Spiritualität
Die Theologie, die im Neukatechumenat Gestalt gewinnt, ist die paulinische. Ricardo Blásquez faßt sie so zusammen: "Die Verkündigung der Auferstehung ist an Menschen gerichtet, die aus Furcht vor dem Tod Sklaven sind. Hier stehen wir vor einem der entscheidenden Punkte. Die Menschen sind gemäß Hebr 2,14-15 aus Furcht vor dem Tod während ihres ganzer. Lebens der Sklaverei unterworfen. Wenn wir uns dieser menschlichen Situation nicht bewußt sind, entfaltet das Kerygma nicht seine ganze Tragweite. Indem der Mensch sündigte, hat er eine Erfahrung des Todes gemacht" (B 15). Die Grunderfahrung der Kenosis, eine existentielle Erfahrung in der Sünde, führt zur Kontrasterfahrung im Kerygma: daß Gott den Menschen, so wie er ist, "kostenlos" liebt. Das Kreuz Christi (und das im eigenen Leben) wird zu einem Zeichen der Liebe. "In dieser existentiellen Situation des Menschen, der durch die Furcht vor dem Tod versklavt ist, erklingt das Kerygma von der Auferstehung Jesu wie eine gute Nachricht, wie eine Freudenbotschaft. Leben ist möglich" (B 18). Eine solche herausfordernde, lebensermöglichende Theologie wird nun mittels einer Pädagogik umgesetzt, die sich auf die urchristliche Praxis beruft und ebenso die Erlebnisse der charismatischen Gründungsphase in Madrid als göttlichen Hinweis erkennt.
Daß die Methode eines intensiven Gemeinschaftslebens auch enorm erzieherisch wirkt, weiß man nicht erst seit dem Entstehen der Gruppendynamik und der Soziologie. Auf diese aber legt das Neukatechumenat keinen Wert. Es sieht in den Erfahrungen und Entwicklungen der Gemeinschaft den Geist Gottes am Werk, der auch die Wunder einer großen Umkehr und Versöhnung immer wieder neu wirkt. Diese Spiritualität lebt also - in Erinnerung an die Urkirche - vom Kern der christlichen Botschaft und vom intensiven Vollzug einer geschwisterlichen Gemeinschaft.
2. Gemeinschaft
Der Lebensraum des Neukatechumenats ist die Gemeinschaft, die Gruppe, in der die Neukatechumenen ihren Weg gemeinsam miteinander gehen. Diese Gruppe wird fortschreitend zum Erlebnisraum einer christlichen Gemeinde. Der Zusammenhalt unter den Mitgliedern wird durch die gemeinsame innere Umkehr am Beginn vertieft, auch durch die scheinbar gleichzeitigen religiösen Erfahrungen, sei es im Bewußtwerden der Schuld, sei es in der Wahrnehmung der österlichen Freude.
In dieser Gruppe übernehmen einzelne Laien Verantwortlichkeiten. Es gibt den Kantor, den Lektor, den Ostiarier - diese alle sind bei der Feier der ausgedehnten Gottesdienste nötig -, die "Witwen", die den wandernden Schwestern und Brüdern Gastfreundschaft bieten, den Glaubenslehrer, der behilflich ist, die Kinder der Ehepaare zum Glauben zu führen. Der wandernde Katechet besitzt in der Gruppe einen zentralen Platz und steht unübersehbar im Vordergrund. Nicht ausgeschlossen kann werden, daß er in Spannung zum Priester gerät, der bei den sakramentalen Handlungen notwendig wird. Dennoch: es wird im Neukatechumenat nicht nur von der Verantwortung von Laien geredet. Die Laien tragen den Erneuerungsprozeß - er ist ihre Sache. Sie bereiten gerade die Gottesdienste immer wieder bis ins kleinste Detail vor.
Diese strukturierte Gruppe, weithin in sich geschlossen und gegen die "böse Welt" entworfen , wird also zum Erfahrungsraum von Kirche, von christlicher Gemeinde, von Geschwisterlichkeit unter Gläubigen. Der Glaube ruht auf einem Geflecht von persönlichen Beziehungen auf, ist am Ende hineingenommen in die Lebensgeschichte von Menschen, die sich auf den in Jesus Christus menschgewordenen Gott eingelassen haben. Zur emotionalen Bindung tritt demnach noch eine soziale hinzu. In diesem Fall kann der Glaube gar nicht anders als eine radikale Lebensform angenommen werden; er hat so gar nichts von einer intellektuellen Vernünftelei an sich, was im übrigen bei der Rolle emotional hochwertiger Feiern naheliegt. Die Stufen der Entwicklung lassen dabei ein Fortschreiten in der Vertiefung des Glaubens, eine Annäherung an Gott erfahren; die jeweiligen Riten, die die Schritte der Initiation begleiten, sind anschaulich, aussagekräftig und bewegend. Gerade diese Riten tragen zu einer ganzheitlichen Übernahme des christlichen Glaubens bei. Der Glaube wird integriert in das eigene menschliche Leben, und die Katechesen reißen in der ihnen eigenen existentiellen Dynamik nach vorne.
Das Gruppenbewußtsein stabilisiert den Neukatechumenen in Auseinandersetzungen mit einer kirchenfeindlichen oder indifferenten Umwelt; es trägt auch zur Überwindung von persönlichen oder partnerschaftlichen Schwierigkeiten in Ehe und Familie bei. Ob und inwieweit hierbei ein Gruppen-Ich an die Stelle eines entscheidungsfähigen, einzelnen Ichs tritt, wirft sich zumindest als Frage auf. Ebenso stellt sich das Problem, ob diese Gruppenzwänge nicht auch selektiv auf bestimmte Charaktere hin wirken. Welche Charaktertypen finden sich in diesen Gruppen zusammen? Welche Lebensgeschichte wird - in Trauer und Freude - quasitherapeutisch mitbearbeitet? Bewußt oder unbewußt? Da die wichtigste heilende Erfahrung eines seelisch kranken Menschen darin besteht, in seinen Gebrechen und Nöten angenommen zu sein (weil er sich, von Gott angenommen, selbst annimmt), wird man die menschlich-heilende Wirkung einer Katechumenatsgruppe nicht unterschätzen dürfen. Heil wird irgendwie als Heilung erfahren.
Die Gefahr eines Gruppen-Ichs wurde bereits angedeutet. Eine Überwindung eines Gruppennarzißmus fordert und fördert eigentlich die Methode, daß aus der Gruppe wieder Katecheten aufbrechen, um in anderen Gemeinden den neukatechumenalen Weg zu initiieren. Dadurch wird von der eigenen Fixierung auf die Gruppe abgelenkt. Das Anliegen der Evangelisation tritt gerade dann in den Vordergrund, wenn die Gruppe zu einer religiösen Idylle zu verkommen droht. Der missionarische Impuls, der in Madrid vor Jahren am Anfang der Bewegung stand, lebt erneut auf; er bewahrt zugleich vor einer sterilen Fixierung der Gruppenmitglieder aufeinander, eine Gefahr, die entweder in den spannungsvollen gruppendynamischen Prozessen zum Scheitern des neukatechumenalen Wegs führen oder die Glaubwürdigkeit der Gruppe durch eine tatsächliche elitäre Exklusivität in Frage stellen würde. Diese zumindest theoretische Öffnung oder Offenheit kann auch dann hilfreich sein, wenn eine Gruppe durch den Weggang von Mitgliedern zerfällt oder durch Aufnahme von Restmitgliedern aus anderen neukatechumenalen Pfarrgemeinden überfremdet wird. Solche Situationen erweisen sich als Probelauf einer christlichen Gemeinde: ob sie in der Tat offen ist oder ob sie sich bereits zu einer Sekte verformte.
Angesichts einer anonymen Gesellschaft und angesichts der Beziehungslosigkeit, die sich aus einer gewissen Unverbindlichkeit der Postmoderne ergibt, gewinnt die neukatechumenale Gruppe dann eine große Faszination, sobald der einzelne seine Berührungsängste überwunden und eine gewisse Angst vor Intimschranken (im "Echo', in den Aussprachen am Gemeinschaftstag, in den Beichten) überstiegen hat. Auch unter dem Aspekt dieser zeitbedingten Nöte erweist sich die Methode als vorteilhaft: in der Dichte der Beziehungen, in der Investition von Zeit, in der Dauer der Entwicklung, in der Emotionalität der Gemeinschaft, in der Gemeinsamkeit einer Freude, die auf einem solchen integrierten Glaubensweg gefunden werden kann.
3. Schule des Glaubens
Der Weg des Glaubens selbst wäre noch einmal besonders in den Blick zu nehmen. Er geht, herausgefordert von "Kenosis" und "Kerygma", langsam voran, er bietet Wahrheit als Lebenswahrheit, er fordert sittliche Umkehr, wo christliches Leben vertieft erfahren werden soll, er bringt auf einen Weg, der immer wieder und immer wieder neu das Ziel vor sich hat: ein Christ zu werden. Daß angesichts der sozial relevanten Gruppenprozesse gerade hier nach dem vom Hl. Geist geführten Glaubensweg des je einzelnen gefragt werden muß, liegt auf der Hand. Oder kommt es notwendig zum Konflikt zwischen Uniformierung und Individualisierung? Der Vorrang der sozialen Sicht des Glaubens - durch die starke Betonung von Kirche und Gemeinde - würde in die gleichen Konflikte führen, wenn die Freiheitsräume sehr eng ausgemessen würden. Ist der kirchliche Glaube noch einer Vielfalt in der Einheit günstig gesinnt oder trennt er sich von allem, was sich einer allzu leichten Integration entzieht?
Eine Zusammenfassung einer neukatechumenalen Gruppe kann noch einmal die Bedeutung dieser geistlichen Bewegung herausstellen:
"Aber gerade diese Kirche bedarf, wenn sie Salz und Sauerteig der Welt bleiben will, selbst immer wieder der Zellen, die Salz und Sauerteig für sie selbst sind. Diesen Dienst tun die Gemeinschaften für die Pfarrei. In der Gemeinde mit dem Katechumenat beginnen, heißt, daß ein für alle gangbarer Weg der Umkehr nicht eine Randerscheinung bleibt, sondern in die Mitte der Pfarrei gestellt ist, und zwar aus der Sorge um die Fernstehenden. Sie brauchen es, daß wir frei werden von einer moralistischen Einstellung, in der wir alles vom guten Willen und der eigenen Anstrengung erwarten und deswegen die anderen um so mehr verurteilen. Es dauert lange, bis wir uns überzeugen lassen, daß Gott der einzige ist, der uns liebt, so wie wir sind, und darum auch der einzige ist, der uns befähigt, einander anzunehmen und zu vergeben."
Jede Akzentuierung eines Glaubensprozesses, auch in der Pfarrerneuerung, bringt mit diesen Vorteilen auch ihre Gefährdungen mit sich. Diese Gefährdungen sind der Preis eines bestimmten Wegs. Auch Ricardo Blásquez teilt diese Bedenken, wenn er schreibt: "Selbstverständlich heißt einen Gesichtspunkt hervorheben nicht, den Rest auszuschließen, sondern die Hervorhebungen bestimmen die Konturen, schaffen die besonderen Kennzeichen, bedingen Stärke und Schwäche" (B 20). Er nennt "weniger glückliche Formulierungen" (B 9), Konflikte (B 43), eine gewisse Arkandisziplin (B 64), Probleme mit der Integration der fertigen Neukatechumenen (B 65). Und er folgert: "Gleichzeitig muß der neokatechumenale Weg sensibel für die empfundenen Mängel sein, damit sie nach und nach überwunden werden können" (B 100).
Man wird bei aller Begeisterung für eine Sache ihre Nachteile nicht übersehen dürfen, zumal wenn es sich um Wege des Glaubens mit Menschen handelt, die von höchster Stelle in der Kirche durch die Gründung von speziellen Priesterseminaren weltweit anerkannt und gefördert werden.
Risiken des Neukatechumenats
Die folgenden kritischen Anmerkungen ergeben sich aus authentischen Berichten über das Neukatechumenat und aus Gesprächen, die mit ehemaligen und jetzigen Teilnehmern an diesem Glaubensweg in den Jahren 1990 bis 1992 geführt wurden.
1. Gruppenbindung
Entscheidend für den Einstieg in die Gruppe ist, wie sich das Neukatechumenat selbst versteht und wie es um weitere Mitglieder wirbt. Falls die Gruppe in ihrem Selbstverständnis ihren "Weg" so absolut setzt, daß sie nur sich als Kirche der Zukunft sieht, andere Mitglieder der Pfarrei als Christen zweiter Wahl einstuft und damit einen Absolutheitsanspruch auf eine christliche Praxis erhebt, wird das ebenso kontraproduktiv wirken, wie wenn mit Heilsangst und mit Drohungen auf Menschen zugegangen wird, in der Absicht, sie für das Neukatechumenat zu gewinnen. Man kann auf solche Weise niemals mündige Menschen auf einen Glaubensweg bringen, an dessen Ende die volle und freie Tauferneuerung stehen soll. Gerade an diesen beiden Beispielen wird greifbar, daß das Verhältnis des einzelnen zur neukatechumenalen Gruppe kritisch betrachtet werden muß, zumal wenn auch zu hören ist, daß jene, die eine Gruppe verlassen, nicht weiterhin besonders betreut werden.
Unmittelbar hier schließt sich das Problem an, wie eine solche Gruppe sich in der Pfarrgemeinde integriert. Es wird unterstellt, daß der Pfarrer der Gemeinde den katechumenalen Weg wünscht und ihn begleitet. Damit wird er in der Optik der Nichtkatechumenen in der Pfarrei von dieser Aufgabe ganz in Beschlag genommen: Er wird an zwei Abenden in der Woche (Mittwoch und Samstag) nur für diese Gruppe ausschließlich dasein. Diese Tatsache erhält besonderes Gewicht, da am Samstag der Gottesdienst des Neukatechumenats jeweils mit dem Vorabendgottesdienst der Gemeinde in Kollision gerät. Dieser exemplarische Konfliktfall wurde in der Erzdiözese Paderborn vom Oberhirten zugunsten des Neukathechumenats gelöst: Die anderen Gläubigen der Gemeinde sollten an diesem langen und nach Spezialriten gestalteten Gottesdienst der Neukatechumenatsgruppe teilnehmen. So wichtig es ist, daß sich hierbei die Neukatechumenatsgruppe irgendwie öffnet, so fragwürdig ist die Praxis, in der den Gemeindemitgliedern keine echte Wahl blieb. Da sonst die Liturgie des Neukatechumenats in geschlossenen, eigens dafür ausgestalteten Räumen unter Ausschluß weiterer Mitglieder der Pfarrei gefeiert wird, entsteht auch auf diese Weise eine Pfarrei in der Pfarrei, eine "Sondergemeinde".
2. Erziehungsstil
Die Praxis der katechumenalen Unterweisung verläuft eher undialogisch, autoritär. Nachfragen sind nicht möglich, selbst Übersetzungen aus dem Italienischen, das manche "ltineranten' sprechen, werden abgelehnt. Der Neukatechumene läßt sich sozusagen blindlings auf einen Glaubensweg ein: Er kennt nicht die Dauer des ihn einfordernden Wegs (wer bestimmt wann über seine Zulassung zur Erneuerung der Taufgelübde?), und er kennt auch nicht die gesamte, entfaltete Planung des Wegs; denn schriftliche Darstellungen des Neukatechumenats - in den einzelnen Stufen, in der theologischen Begründung - werden durchweg nicht aus der Hand gegeben. Oder gibt es sie gar nicht? Auch soll nicht über die Vorgänge in der Gruppe bei Fremden gesprochen werden. Wird dennoch etwas "draußen" bekannt, wird nach dem "Verräter "gesucht. Anzeichen von Fanatismus?
Es liegt aufgrund solcher Feststellungen nahe, daß einfache Gläubige das Neukatechumenat in die Nähe einer Sekte rücken. Der Verdacht ließe sich begründen aus einem Selbstverständnis, das elitär und exklusiv ist, aus einem autoritären Stil des Umgangs und der doktrinären Glaubensvermittlung, aus der Konzentration auf ein Gruppen-Ich, das emotional gefestigt ist und durch den Ortspfarrer unmittelbar mitgetragen wird. Diese Nähe einer Sekte wird durch zweierlei noch vertieft: durch eine fundamentalistische Ausprägung in der Glaubenswahrheit und durch eine vorkonziliare Fixierung auf die Hierarchie. Zum ersten wäre anzumerken, daß im Verständnis der Hl. Schrift oft wenig Sachkenntnis zu entdecken ist. Das "Echo" nach der Lesung der Schrift öffnet subjektiver Deutung Tür und Tor. Zum zweiten wäre festzuhalten, daß der Priester eine heraus gehobene Rolle spielt und angesichts der bedingungslosen Kirchlichkeit ein "prorömischer Affekt" nicht zu übersehen ist.
3. Konflikte
In einem ausführlichen Bericht eines Pfarrgemeinderats, der sich mit Konflikten mit einer neukatechumenalen Gruppe konfrontiert sah, war folgende Charakteristik zu finden:
"Aus unserer Sicht kommen wir zu folgender Bewertung des Neukatechumenats:
1. Das Neukatechumenat kommt - so wie es sich hier darstellt - in die gefährliche Nähe einer Sekte.
2. Die Einführung des Neukatechumenats in einer 'lebendigen' Gemeinde ist abzulehnen:
a) Als 'Weg der Gemeinde' führt es zwangsläufig zur Spaltung der Gemeinde.
b) Auch ein Nebeneinander von Neukatechumenat und übriger Gemeinde ist angesichts der vorgeschriebenen personalen Identität mehr als kritisch. Der geistliche Vorsteher der Gemeinde ist nämlich unabdingbar stark in das Neukatechumenat eingebunden. Er hat keine Möglichkeit, sich 'neutral' zu verhalten. Er untersteht gleichzeitig zwei Hierarchien: der der katholischen Kirche und der (wenig durchschaubaren) des Neukatechumenats.
3. Wenn sich das Neukatechumenat bereitfinden sollte, losgelöst von den vorhandenen Gemeinden zu wirken (ggf. mit eigenen Priestern), so wäre dennoch zu fordern, seine Methoden zu überprüfen. Zumindest müßte a) der Informationshorizont erweitert und b) jede Form von psychischem Druck ausgeschaltet werden."
Da andere Berichte - in Text und Gespräch - zumindest die Gefahren einer solchen Entwicklung bestätigen , ergeben sich einige grundsätzliche Probleme, die sich nicht aus personellen Verwicklungen ergeben, sondern strukturell naheliegen. Was das Neukatechumenat in einer Gemeinde betrifft, scheint es dort nicht wie Dynamit zu wirken, wo in ihr zwei Geistliche arbeiten. Einer kann sich dann ungeteilt und engagiert dem Neukatechumenat widmen, der andere, ein Kaplan oder Religionslehrer, kann zur Bezugsperson der "Rest"-Gemeinde werden. Es böte sich auch die andere Lösung an, daß jeweils von einem Dekanat verantwortet wird, ob in einer seiner Pfarreien der neukatechumenale Weg begonnen wird. Dann aber müßten alle Pfarrer und Pfarrgemeinderäte eines Dekanats dieses Experiment insoweit mitzutragen bereit sein, als sie dort einspringen, wo der eine Pfarrer absorbiert ist und wo Gläubige aus "ihrer" Pfarrei wegen des Neukatechumenats auswandern. Die Gefahr der "Sondergemeinde", die eine Pfarrerneuerung gerade eher verhindert, wird nur in einer großen Sensibilität aller Beteiligten vermieden werden können. Dabei wird der Pfarrgemeinderat, der allerdings nicht durch pfarrfremde Mitglieder des Neukatechumenats unterwandert werden sollte, seine nachkonziliare Rolle in Verantwortlichkeit für das Ganze spielen. Wenn schon "Liebe und Einheit" die Zeichen des lebensbringenden Kerygmas des Evangeliums sind, wird man auch vom Neukatechumenat her die Spaltung von Pfarreien und ungewöhnliche Konflikte nicht wollen können. In dieser Weise argumentiert Ricardo Blásquez:
"Im Falle eines Konfliktes verlangen die Katechisten nur, daß eine allfällige Fortsetzung des neokatechumenalen Weges ohne Verfälschung geschieht. Wenn dies wegen der Haltung des Pfarrers nicht mehr möglich ist, ziehen sich die Katechisten endgültig aus der Pfarrei zurück. Es ist undenkbar, daß sie Druck ausüben oder dunkle Machenschaften gegen den Pfarrer anwenden. Ebenso undenkbar ist, daß der Pfarrer die in der Pfarrei geschaffene Gruppe ausnützt, um ihr eine Orientierung nach seinem persönlichen Gutdünken zu geben ... Natürlich sind Konflikte nicht ausgeschlossen, aber das gegenseitige Gespräch löst sie. In letzter Instanz hat der Bischof das Wort' (B 43).
Diesen Maximen kann nur zugestimmt werden.
Ein Weg unter vielen Wegen
Die kritische Betrachtung des Neukatechumenats kommt zu dem Ergebnis, daß es ein Weg des Glaubens unter vielen heute möglichen ist. Jeder Absolutheitsanspruch einer pastoralen Methode widerspricht im Ansatz schon dem "Wehen des Geistes" (Joh 3, 8) und läßt sich auch mit der Erfahrung nur schwer vereinigen, daß alles menschliche Tun seine Grenzen und Schwächen hat und vor Mißbrauch nicht sicher ist.
Diese Bewertung liegt auch deshalb nahe, weil die Fixierung auf die paulinische Theologie eine Engführung im Verständnis der Botschaft Jesu mit sich bringt. Von der Reichgottesbotschaft Jesu ist kaum die Rede. In der Ekklesiologie wird von Blásquez etwas vereinfacht "die Kirche in der Gestalt einer Gemeinschaft" im Gegensatz zu einer Kirche "in der Form der Organisierung religiöser Dienste" (B 66) gebracht. Diese Kritik an der realen Kirche verwundert um so mehr, als ja das Neukatechumenat alle organisatorischen Möglichkeiten nützt, um sich auszubreiten. Schließlich ist das Bild der Gemeinde enggeführt auf Evangelisierung, die zusätzlich nicht als eine apostolische Gemeinschaft verstanden wird. Blásquez entschuldigt dies mit dem Hinweis, es müsse in der Kirche nebeneinander unterschiedliche Gemeinschaften geben und es könne die Wirksamkeit der neukatechumenalen Gemeinschaften "nicht an der Zahl von Aktiven, z. B. Gewerkschaftsmitgliedern, die sie hervorbringt, gemessen werden" (B 104). Es gingen aus den Gemeinschaften besondere Berufungen hervor: zum Priestertum, in der Caritas, unter den Randgruppen. Demnach zeichnet sich also in den Wesensbestimmungen einer christlichen Gemeinde, nämlich Martyria, Liturgia, Diakonia, eine beachtliche Selektion ab, die sich von einer gesellschaftlich verantwortlichen Kirche nicht wenig absetzt.
Diese Kritik wäre mißverstanden, wollte man das Anliegen des Neukatechumenats damit abgewertet sehen. Die folgenden Fragen sind durchaus zu Recht gestellt: Wie führt man heute einen Christen, eine Gemeinde zu einem Glaubens- und Taufbewußtsein? Welche Rolle spielen vielfältige Gruppen in der Einheit einer Pfarrgemeinde? Läßt sich eine neue Katechese für Erwachsene - und nicht nur die Sakramentenkatechese - in den Gemeinden aufbauen? Welche religionspädagogisch und religionspsychologisch verantworteten Methoden bieten sich heute an? Gehört zu radikalen Glaubenswegen nicht auch eine Kenntnis gruppendynamischer Vorgänge? Läßt sich auch generationsübergreifend ein Glaubensweg in der Gemeinde eröffnen? Damit sind wichtige Fragen an eine zeitgemäße Seelsorge gestellt.
Es gibt in der Geschichte der Seelsorge andere Methoden, die bereits Antworten auf die gleichen Fragen sein wollen: Exerzitien (in vielfältigen Formen), "Volksmissionen", religiöse Wochenenden, Einkehrtage, christliche Intensivgruppen, die Schulung und Lebensbegleitung in den Verbänden usw. Alle hatten das Ziel, zu einem glaubwürdigen und erfüllenden christlichen Leben zu führen, das auf die Zeichen der Zeit aus der Botschaft des Evangeliums heraus antwortet und diese Botschaft dann auch sozial und politisch verantwortet. Karl Rahners Wort "Man ist immer Christ, um es zu werden" bringt nicht nur eine große Dynamik in ein christliches Leben; es warnt auch vor allen zu perfektionieren Strategien der Seelsorge. Der absolut sichere Weg des Christwerdens wird angesichts des je größeren Gottes nie gefunden werden können.
Charisrna und Kirchenpolitik
Ricardo Bláquez, Weihbischof in Santiago de Compostella und Förderer des Neukatechumenats, kommt am Ende seines Bändchens auch auf die Funktion des Charismas in der Kirche zu sprechen . Er erkennt eine Schuldigkeit der Kirche dem Geist Gottes gegenüber, das Charisma in seiner Ursprünglichkeit zu bewahren, und schreibt:
"Damit die Charismen in ihrer Unverfälschtheit von der Kirche aufgenommen werden, müssen sie diskutiert werden. Manchmal muß die Kirche sie fördern in ihrer Reifung und in der ausdrücklichen Entfaltung dessen, was in ihnen angelegt ist. Dann ist es verständlich, daß gewisse Korrekturen, eine gewisse Anpassung im Licht der gemachten Erfahrungen und der Erfordernisse der kirchlichen Gemeinschaft verlangt werden (B 114). Damit werde keiner Manipulation das Wort geredet; denn die Gesundheit der Kirche erweist sich in der großmütigen Aufnahme von Initiativen, die vom Geist geweckt werden; und die Wahrheit der Charismen wird durch die eigene Verfügbarkeit gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft beglaubigt" (B 115).
Es fragt sich allerdings, inwieweit die "eigene Verfügbarkeit gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft" gegeben sein kann, wenn einerseits aufgrund des Mangels der grundlegenden Schriften des Neukatechumenats (in Theorie und Methode) eine pastoraltheologische Auseinandersetzung und Diskussion gar nicht stattfinden kann und wenn andererseits durch die Gründung von neukatechumenalen Priesterseminaren in aller Weit strukturell Tatsachen gesetzt werden, oft an der Verantwortung des jeweiligen Klerus und des Volkes Gottes vorbei. Wo geht die Sorge um ein Charisma in die geheimen Strategien der Kirchenpolitik über? Das ist ein nicht unbedeutendes, nicht nur nachkonziliares Problem.